Gastbeitrag

Demokratie braucht Bildung

von Gastautor Elmar Fulda

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Warum muss ich das lernen? Eine typische Schülerfrage, die Eltern schon mal in Erklärungsnot bringt. Weil es wichtig ist, weil wir es auch gelernt haben, sind dann übliche Beschwichtigungsversuche, um die Auseinandersetzung mit dem Nachwuchs zu beenden, indem wir das Recht auf Bildung als eine Pflicht zum Erledigen der nervigen Hausaufgaben umdefinieren. Gilt das auch für Demokratie? Ist sie ein Bildungsthema, müssen wir Demokratie lernen?

Dass alle Kinder gleichermaßen in eine meist öffentliche Schule gehen, ist eine Entwicklung seit den Zeiten der europäischen Aufklärung. Vorher war Bildung gesellschaftliches Distinktionsmerkmal und oft allein adeliges oder kirchliches Privileg. Eine allgemeine Schulpflicht schrieb erst die Weimarer Verfassung von 1919 fest. Heute ist das Recht auf Bildung ein Menschenrecht gemäß Artikel 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen und auch in der Kinderrechtskonvention verankert. Das Grundgesetz versteht Bildung in Artikel 2 umfassender als Recht auf eine freie Entfaltung der Persönlichkeit in allen Lebensaltern. Es stellt das Schulwesen unter staatliche Aufsicht und macht Bildung damit zu einer seiner zentralen Aufgaben.

Zu Recht. Denn Bildung ermöglicht die Entfaltung der individuellen Persönlichkeit und gesellschaftliche Teilhabe. Bildung fördert die Fähigkeit des Einzelnen, die Welt zu erkennen, Zusammenhänge zu analysieren, zu beschreiben und eine eigene Meinung zu entwickeln. Bildung ist so verstanden Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie. Oder anders herum formuliert: Halbwissen ist der Nährboden für Populismus. Nichtwissen oder auch Nicht-wissen-wollen macht die Menschen anfällig für Verschwörungstheorien, selbsternannte Querdenker, Ideologen, Hassprediger.

Demokratie setzt den wissenden und in diesem Sinn mündigen Bürger voraus. Demokratie beschreibt im griechischen Wortstamm nicht nur eine Staatsform, sondern die Qualität politischer Verständigung in einem Gemeinwesen. Es ist die Gemeinschaft, die mehrheitlich eine Entscheidung trifft, sei es in den großen Leitlinien der gesellschaftlichen Entwicklung oder im Alltag. Und dabei ist es von Vorteil, ja eigentlich Voraussetzung, dass die Stimmberechtigten etwas vom verhandelten Gegenstand verstehen, zumindest grob informiert sind, auch wenn das Grundgesetz Wahlentscheidungen als allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim definiert, ein Kriterium der Sachkunde jedoch nicht kennt.

Zugespitzt formuliert: Für die Ausübung des Stimmrechts wird kein Eignungstest verlangt.

Das Grundgesetz gibt dem einzelnen Menschen damit einen gehörigen Vertrauensvorschuss. Es stellt sich, als Konsequenz aus den unseligen Erfahrungen aus dem Nationalsozialismus, gegen jede Klassifizierung von Personen, spricht von der Würde jedes einzelnen Menschen, ganz unabhängig von Herkunft und Fähigkeit, Kenntnis oder Erfahrung. Zu Recht, denn mit jeder anderen Vorgehensweise wären wir schnell bei einer Herrschaft der Besseren oder Besten. Auch eine solche gab es schon, genannt Aristokratie.

Wir wollen etwas anderes: Wir wollen, dass jeder Mensch, der Teil unserer Gemeinschaft ist, das Recht hat mitzureden und mitzuentscheiden und seine Perspektive und Haltung einzubringen, wie immer fundiert, reflektiert, spontan oder emotional diese ist.

Es ist ein Recht, das wir wahrnehmen können, keine Pflicht. Unser Gemeinwesen baut auf Freiwilligkeit und inneren Antrieb des Einzelnen auf, nicht auf die Verpflichtung, sich entscheiden zu müssen. Eben auf Freiheit, verstanden in einem sehr umfassenden Sinn. Auch der Freiheit, dass es einem egal ist. Mit der Konsequenz, dass man die ohne die eigene Mitwirkung gefällten Entscheidungen akzeptieren muss.

So gesehen sind demokratische Entscheidungen ein aktives Wahlrecht, das man bewusst und initiativ wahrnimmt. Oder eben nicht.

Freiheit der Presse und Berichterstattung, Freiheit von Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre, ein weiteres Grundrecht, eröffnen jedem die Möglichkeit, sich unabhängig und selbstständig eine Meinung zu bilden. Was für den Fußball gilt, trifft auch hier zu: Man versteht mehr, wenn man mehr weiß. Demokratie funktioniert auch ohne (Meinungs-)Bildung, so stabil ist das System. Aber mit Bildung läuft Demokratie besser.

Was müssen unsere Kinder lernen? Lesen, Schreiben, Rechnen. Das ist unstrittig. Jenseits dieser grundsätzlichen Kulturtechniken, zu denen ich auch das kreative Gestalten in seinen unterschiedlichen Kunstformen wie Malen, Musizieren, Bewegen rechne, wird es schon kontroverser. Welche Bücher werden gelesen, Sexualkunde ja oder nein, am Menschen oder an den Bienen erklärt, Morgengebet oder überkonfessionelle Meditation – das waren die Aufreger im Bayern meiner Kindheit. Über das Politische wurden wir informiert, erhielten ein Büchlein mit der Bayerischen Verfassung und dem Grundgesetz. Aber wie unsere demokratische Gesellschaft tatsächlich funktioniert, das wurde nicht thematisiert. Und das halte ich für einen Fehler.

Demokratie ist sehr einfach: Ein Mensch, eine Stimme. Zugleich, das ist ihre große Qualität, geht es um einen hoch komplexen Aushandlungsprozess mit dem Ziel, Einzelinteressen zu einem möglichst breiten, in jedem Fall mehrheitlich akzeptierten Konsens zu bündeln. Der Fokus liegt im Grunde nicht auf der finalen Abstimmung, sondern auf dem Weg dorthin. Indem mögliche Positionen formuliert, mit gegensätzlichen Entwürfen abgeglichen, Schnittmengen gesucht, Einigungen erzielt werden, entsteht eine große Bewegung, die möglichst vielen Menschen das gute Gefühl geben kann mitzugestalten, sich dadurch als relevant und selbstwirksam zu erleben – und aus dieser Erfahrung selbst solche Entscheidungen mittragen zu können, die eigene Interessen vielleicht nur teilweise abbilden.

Was braucht es dazu? Wissen, ja. Erfahrung, natürlich. Aber vor allem viel Praxis und Einübung in den demokratischen Prozess. Davon brauchen wir mehr. In den Familien, in der Schule, in allen gesellschaftlichen Gruppierungen. Der Kompromiss wird von den extremen politischen Rändern diffamiert. Aber er ist der Kern unserer Demokratie. Die Suche nach konsensualen Lösungen macht Entscheidungen und Entwicklung mitunter langsam, aber ermöglicht es allen, die sich beteiligen, am Ende einverstanden zu sein. Das schafft Identifikation und inneren Frieden. Auch davon brauchen wir mehr! Durch Bildung.

 

Dieser Beitrag wurde ursprünglich im Journal Frankfurt veröffentlicht.

 

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